Wiebke Tomescheit
Musicals sind anstrengend für die Schauspieler. Klar, immer. Singen,
tanzen, strahlen. Meist bekommen Hauptdarsteller deshalb in die Stücke einige
Szenen eingebaut, in denen sie verschnaufen können. Bei „Billy Elliot“, dem britischen Musical, das bald im Mehr!-Theater zu
sehen sein wird, ist das nicht so. „Billy“, an verschiedenen Abenden
abwechselnd von drei blutjungen Tänzern gespielt, wirbelt fast das ganze Stück
über die Bühne, tanzt atemberaubend gut und ist am Schluss des Stücks nicht mal
sichtbar aus der Puste.
„Es ist so ein großartiges Erlebnis, einfach super“, sagt Emile Gooding
(12), einer der drei Jungen, die sich in der Hauptrolle abwechseln. Er wirkt
sehr ehrlich und sehr ernsthaft, wenn er über seinen Musical-Job spricht.
Kinderarbeit? Quälerei?
Das wirkt nicht so: „Ich liebe Tanzen, ich möchte das später auf jeden Fall
beruflich machen!“ Schon vor „Billy Elliot“ war Emile Schüler einer
professionellen Tanzschule. Jetzt trainiert er täglich und steht regelmäßig auf
der Bühne.
Allein eine besondere Szene namens „Dream Ballet“, in der Billy – an Seilen
befestigt – fliegt, muss von den drei Jungs wöchentlich geprobt werden, rund
anderthalb Stunden. „Ich mag das Fliegen!“, sagt Emile und lacht. „Aber manchmal
bist du schon einfach müde…“
In Deutschland sind die Jugendschutzbestimmungen sehr streng – nach 22 Uhr
dürfen Kinder beispielsweise nicht mehr auf der Bühne stehen. Deshalb wird das
Original-Ensemble aus England kommen und das Musical für die Hamburger spielen.
Auch Emile ist dabei – nach der letzten Vorstellung in Hamburg endet sein
Engagement und er wird wieder ein ganz normaler Junge sein – top ausgebildet
und mit guten Chancen auf eine Karriere als Profi-Tänzer, wenn er älter ist.
„Zur letzten Show in Hamburg wollen meine Eltern kommen und zuschauen“,
verrät er. Die sieht er momentan nur selten.
Damit die Hamburger verstehen, worum es im Musical „Billy Elliot“ überhaupt
geht, wird der englische Dialog und der Gesang auf Bildschirmen übersetzt.
Sicher hilft es auch, wenn man den unheimlich erfolgreichen Film aus dem Jahr
2000 kennt.
Und es dürfte auch nicht schaden, sich vorab mit dem großen Konflikt
zwischen Margaret Thatcher und den englischen Minenarbeitern in den 80er Jahren
zu beschäftigen. Denn Billys Familie wohnt in einer Kleinstadt, die vom Bergbau
lebt und unter dem Streik akut leidet. In dieser Situation versteht Billys
wortkarger Vater umso weniger, dass sein Sohn nicht boxen will, wie all seine
Freunde, sondern Ballett tanzen möchte.
Es dauert lange, bis die Familie über den Streit um Billys Hobby und die
gesellschaftlichen Konflikte wieder zusammenfindet. Dann aber umso enger – wer
den knorrigen Vater am Ende nicht ins Herz geschlossen hat, der hat vermutlich
keins.
„Billy Elliot“ schafft es, ohne den üblichen Kitsch Szenen zu schaffen, in
denen die Zuschauer plötzlich feuchte Augen bekommen – an anderen Stellen kann
über typisch britischen Humor gelacht werden. Auch Billys gleichaltriger Kumpel
Michael hat das Zeug zum Publikumsliebling.
„Ich bin insofern wie Billy, dass ich unbedingt tanzen will“, sagt der
zwölfjährige Emile. „Aber zum Glück habe ich eine Familie, die mich dabei
unterstützt.“
aus: Hamburger Morgenpost, S. 30/31, 2. Juni 2017